8.

Als er aber den Burgunder in die Hand nahm, gab er dem Jungen, halb ärgerlich halb gutmütig, einen Tipp auf die Schulter und sagte: »Bist ein Döskopp, Ede. Mit grünem Lack, hab ich dir gesagt. Und das ist gelber. Geh und hole ne richtige Flasche. Wer’s nich im Kopp hat, muß es in den Beinen haben.«

Ede rührte sich nicht.

»Nun, Junge, wird es? Mach flink.«

»Ich geih nich.«

»Du gehst nich? Warum nich?«

»Et spökt.«

»Wo?«

»Unnen … Unnen in’n Keller.«

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Hansjürgen Mannhardt brauchte Papier und Bleistift, um sich klarzumachen, wer alles zu seiner Großfamilie gehörte, denn Michael und Elke, seine beiden Kinder aus erster Ehe, hatten mit mehreren Partnerinnen beziehungsweise Partnern etliche Kinder gezeugt, mal ehelich, mal nicht ehelich, und zudem hatten sowohl er als auch Lilo, seine Exehefrau, neue Familien gegründet. Sieben Enkelkinder hatte er, einige schon in einem Alter, in dem sie ihn zum Uropa machen konnten, was er fast so fürchtete wie einen Schlaganfall.

Selten kamen alle zusammen, da musste schon einmal ein Onkel seinen 90. Geburtstag feiern oder eine allseits beliebte Tante zu Grabe getragen werden. So wie diesmal Tante Elsa, die als Krankenschwester viel Gutes getan hatte. Es war Brauch gewesen, bei plötzlich auftretenden Beschwerden, insbesondere an Sonn- und Feiertagen und spätabends, wenn kein Arzt zur Hand war, erst einmal Tante Elsa anzurufen und zu fragen, ob die Symptome, die man aufzuweisen hatte, noch auf einen grippalen Infekt hindeuteten oder schon auf eine Lungenentzündung.

Tante Elsa hatte zeitlebens in Friedenau gewohnt, zuletzt am Südwestkorso, und so war es logisch, dass sie auf dem kleinen Friedhof an der Stubenrauchstraße beigesetzt wurde. Als sie in langer Schlange zwischen den Gräbern standen und warteten, bis sie an der Reihe waren, ihre drei Hände voll Erde auf den Sarg zu werfen, hatte Mannhardt Zeit genug, die Wohnung ins Auge zu fassen, in der Karsten Klütz gelebt hatte. Komisch. Früher hätte man gesagt ›Berlin is doch ’n Dorf‹, heute sagte man ›Alles hängt mit allem zusammen‹. In den letzten Tagen hatte er Klütz’ Aufzeichnungen Zeile für Zeile gelesen, und immer wieder stand ihm das Bild vor Augen, wie Klütz ihn angefleht hatte: ›Bitte, Herr Kommissar, Sie haben doch jetzt Zeit genug: Gehen Sie meinen Fall noch einmal durch. Ich schwöre Ihnen bei Gott und bei allem, was mir heilig ist, dass ich den Mord damals nicht begangen habe. Ich habe alles aufgeschrieben und stecke Ihnen meine Papiere nachher schnell zu … Bitte, retten Sie mich!‹

Beim Leichenschmaus in einem Café am Südwestkorso saß Mannhardt dann neben einem Enkel, der auf den schönen Namen Orlando hörte. Man kannte sich kaum.

»Bist du auf einem Florida-Urlaub deiner Eltern gezeugt worden?«, fragte Mannhardt.

»Nein, mein Vater ist doch Shakespeare-Fan.«

Mannhardt staunte. »Wenn dein Vater mein Sohn Michael ist, dann ist mir das unbegreiflich, denn wenn der das Wort Literatur gelesen hat, kam er mit einer Kanne an und hat mich gefragt, ob er einen Liter Atur holen soll. ›Papa, was ist Atur eigentlich?‹«

Orlando hatte Schwierigkeiten mit Kalauern dieser Art und konnte nur ausrufen: »Ach, Opa!«

Mannhardt bemühte sich nun, das Niveau zu heben, und fragte seinen Enkel, wie denn Orlando und Shakespeare zusammenhängen würden?

»In ›Wie es euch gefällt‹ gibt es ein Paar: Orlando und Rosalinde.«

»Studierst du Literatur oder Anglistik?«, fragte Mannhardt.

»Nein, Jura.«

Mannhardt verzog das Gesicht. »Jura … Was willst du werden, wenn du fertig studiert hast: Rechtsverdreher …?«

»Nein, Strafrichter.«

»Wunderbar!«, rief Mannhardt. »Das sind die Leute, die immer alle freisprechen, die wir mühsam geschnappt haben. In dubio pro reo, wegen der schweren Kindheit.«

»Das sind doch Vorurteile«, wandte Orlando ein.

»Sind Vorurteile auch Urteile?«, fragte Mannhardt.

»Sind Ratschläge auch Schläge?«, fragte Orlando zurück.

»Ich sehe, wir verstehen uns prächtig«, sagte Mannhardt. »Willst du nicht mein Enkel werden?«

»Ja, Opa.«

So ging es noch ein Weilchen, bis Heike sie ermahnte, sich mit ihrer Fröhlichkeit ein wenig zurückzuhalten, schließlich käme man nicht aus einer Blödelshow, sondern von einer Beerdigung.

Als sie dann auf der Straße standen, um sich wieder in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen, hatte Mannhardt eine Idee.

»Hör mal, Lando Or, hast du nicht Lust, eine kleine Einführung in die kriminologische Praxis mitzumachen?«

»Mit wem denn?«

»Mit einem erfahrenen Lehrbeauftragten der hiesigen Fachhochschule und altgedienten Praktiker: deinem Bullen-Opa.«

»Ja, gerne.« Orlando freute sich. »Mein Semester geht ja erst im Oktober los. Um was dreht es sich denn?«

»Um einen Mann namens Klütz, der hier in dem Haus gegenüber gewohnt hat, bis ihm deine Kollegen wegen Mordes 15 Jahre aufgebrummt haben. Er hat zwar ein Geständnis abgelegt, es aber später widerrufen.«

»Da hat ihm aber keiner mehr geglaubt …?«

»So ist es. Als ich mit meinen Studenten in Tegel war, hat er mir seine Aufzeichnungen in die Hand gedrückt. Da will ich nun recherchieren … Ja, doch!« Dieser Ausruf des Unmuts bezog sich auf Heike, die an ihrem Wagen stand und zum Aufbruch drängte, Silvio neben sich.

»Das ist also dein Sohn?«, wollte sich Orlando vergewissern.

»Ja, warum?«

»Weil es schon komisch ist, wenn einer einen Enkel hat, der dreimal so alt ist wie sein Sohn!«

»Hansjürgen, kommst du endlich!«

»Zu Befehl, meine strenge Gebieterin!« Mannhardt salutierte kurz, bevor er seinem Enkel die Hand drückte. »Wir telefonieren miteinander.«

Das taten sie dann am Vormittag des nächsten Tages, und Mannhardt riet Orlando, zum Verständnis des Falles Klütz Fontanes Kriminalroman ›Unterm Birnbaum‹ zu lesen.

»Irgendwie ist das, was sich da draußen in Frohnau abgespielt hat, eine Fontane-Paraphrase.«

»Was für eine Phrase?«, fragte Orlando.

»Pisa!«, rief Mannhardt. »Eine Paraphrase ist in der Musik eine freie Bearbeitung von Tonstücken. Siehe die Paraphrasen von Franz Liszt über Verdis Opern ›Emani‹ und ›Rigoletto‹.«

»Es ist schön, wenn die ältere Generation ihr Wissen an die jüngere Generation weitergibt«, erklärte Orlando. »Wir sollten uns beim Bundesministerium für Familie bewerben, ob wir nicht bei einer Werbekampagne mitmachen können. Wir beide an jeder Litfaßsäule.«

»Besser an einer Litfaßsäule kleben als an einem Laternenpfahl hängen«, sagte Mannhardt. »Der Soldat, den sie in Wiederscheins Garten gefunden haben, ist 1945 wahrscheinlich als Deserteur an einem Laternenpfahl aufgehängt worden.«

»Wer ist Wiederschein?«, fragte Orlando.

»Ich erzähl dir mal alles …«

Das dauerte eine gute halbe Stunde, dann, als er wieder aufgelegt hatte, trat Mannhardt an sein Bücherregal und nahm sowohl die literarische Plauderei ›Mord und Totschlag bei Fontane‹ zur Hand als auch den Roman ›Unterm Birnbaum‹ selbst.

Im August 1885 hatte ›Die Gartenlaube‹ begonnen, ›Unterm Birnbaum‹ abzudrucken. Das Ganze spielte in Tschechin, einem deutschen Dorf im Oderbruch, nachempfunden der Ortschaft Letschin, in der Fontanes Vater von 1838 bis 1850 Apotheker gewesen war und ihn als Gehilfen beschäftigt hatte. Der Roman sollte ein Flop werden, denn das damalige Publikum interessierte sich für das Arme-Leute-Milieu eines Oderbruchdorfes nur wenig.

Der Protagonist heißt Abel Hradschek und kommt als Kind kleiner Leute aus dem Böhmischen, ist eigentlich von Haus aus Zimmermann, eröffnet aber um Michaeli 1820 in Tschechin ein Gasthaus und Materialwarengeschäft. Dem Glücksspiel verfallen, macht er viele Schulden und droht zu verarmen, wovor seine Frau Ursula, einst Schauspielerin, furchtbare Angst hat. Als Hradschek, ein Freund der Gartenarbeit, unter seinem Birnbaum gräbt, stößt er auf das Skelett eines französischen Soldaten, der im Jahre 1813 hier verscharrt worden ist.

›Der Fund bringt ihn auf die Idee, einen raffinierten Mordplan auszuführen, der ihn von seinen Geldnöten befreien und die Polizei auf eine falsche Fährte locken sollte‹, las Mannhardt in der Einführung zum Roman. ›Doch kaum ist der gefürchtete Schuldeneintreiber beseitigt und im Keller vergraben, die Polizei plangemäß von der Unschuld des Ehepaars Hradschek überzeugt, beginnen Gewissensqualen …‹

Mannhardt machte sich an die Lektüre. Die nur 108 Seiten waren zwischen Mittagessen und Tagesschau mühelos geschafft, und als er die letzte, kursiv gesetzte Zeile gelesen hatte – ›Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.‹ – rief er seinen Enkel an, um sich mit ihm für einen Ausflug nach Frohnau zu verabreden.

 

*

 

Mannhardt hatte in seinem ersten Leben, das heißt in seiner Ehe mit Lilo und den Kindern Michael und Elke, in Hermsdorf gewohnt, dem Ort vor Frohnau, von der Stadtmitte aus gesehen, und so sprachen sie bei der Fahrt mit der S-Bahn zuerst einmal über die Familiengeschichte und dann erst über Karsten Klütz und Rainer Wiederschein. Langsam aber kamen sie zum Thema.

»Wie hat dir denn ›Unterm Birnbaum‹ gefallen?«, fragte Mannhardt seinen Enkel.

»Nun …« Orlando war sich in seinem Urteil nicht ganz schlüssig. »Ganz spannend und eine Art vorweggenommener Sozio-Krimi, aber die Leute reden mir zu viel, und dadurch wird das alles zu langatmig.«

»Damals haben sie eben viel geredet, was sollten sie ohne Fernsehen sonst auch anderes machen? Sich zu unterhalten, war die einzige Unterhaltung. Und außerdem sollen wir uns bei Fontane durch das, was sie sagen, ein Bild von ihrem Charakter machen.«

»Mannhardt, setzen: Eins«, sagte Orlando.

»Das habe ich in der Schule nie zu hören bekommen. Es hat ja bei mir auch nur zum Ersten Kriminalhauptkommissar gereicht.«

»Nur? Eure Berufsgruppe wird doch wie kaum eine andere, Ärzte und Pfarrer einmal ausgenommen, in den Medien glorifiziert.« Sein Enkel meinte es gut mit ihm und wollte ihn trösten, ohne aber zu merken, dass man nur Opfern Trost spendete.

Mannhardt reagierte dementsprechend nur mit einem eher säuerlichen Lächeln. »Klar, als Beamter des gehobenen Dienstes ist man im Leben ganz weit nach oben gekommen und gehört zu den Schönen und den Reichen.«

»Sollen 99,99 Prozent aller Deutschen Selbstmord begehen, weil sie im Ranking unserer Milliardäre nicht auftauchen?«, fragte Orlando.

»All die, die nicht Aldi sind«, ergänzte Mannhardt. »Nein, wir haben ja genug Brot und Spiele, Alkohol und Drogen, Partys und Klubs. Und jemanden umbringen kann man selbstverständlich auch noch, wenn sich sonst kein Sinn im Leben finden lässt. Oder man gehört zur Generation Doof, dann hat man’s ohnehin leicht. Immer ganz cool, denn was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.«

»Sei doch nicht so verbittert!«, rief Orlando.

»Lass mich doch verbittert sein!«, gab Mannhardt zurück. »Die einen haben ihr Jodeldiplom, die anderen ihre Bittergottesdienste.«

»Solche Stimmung bringt dich aber eher ins Grab«, hielt Orlando ihm entgegen.

Mannhardt lachte und kam ihm mit einem Spruch aus seinen besten Mannesjahren. »Wer früher stirbt, ist länger tot.«

»Irgendwie wird deine Generation defätistisch, was Sinn und Ziel der Bundesrepublik angeht.«

»Das ist zweifelsfrei die einzig vernünftige Reaktion«, sagte Mannhardt und zitierte dann mit einigem Pathos: Frommt’s, den Schleier aufzuheben, / Wo das nahe Schrecknis droht? / Nur der Irrtum ist das Leben, / Und das Wissen ist der Tod.

»Fontane?«, fragte sein Enkel.

»Nein, Schiller: ›Kassandra‹. Aber bei Fontane heißt es dazu: Das ist das Tiefste, was je über Mensch und Menschendinge gesagt worden ist.«

»Ein schönes Leben, was der Klütz fast zehn Jahre lang im Knast geführt hat«, sagte Orlando. »Nur weil dein Kollege Schneeganß sich damals geirrt hat.«

Mannhardt blieb philosophisch. »Wer weiß, ob sein Leben draußen auch so erfüllt gewesen wäre. Und außerdem hat er ein Geständnis abgelegt.«

»Und vor Gericht widerrufen!«

»Bloß, dass ihm keiner mehr geglaubt hat. Künstlerpech.«

Mit Dialogen dieser Art erreichten sie Frohnau, stiegen zur Brücke hinauf und gingen zur Straße, an der das ›à la world-carte‹ gelegen war.

Mannhardt erinnerte sich. »Hier hatte ich mal einen Fall, wo ein Nachbar den anderen mit einem Osterei vergiften wollte, mit einem, das mit Zyankali gefüllt war, und da hinten am Ludolfinger Weg gab es mal ein junges Paar, das keinen Job finden wollte oder konnte und von der Rente eines Onkels gelebt hat – der war jedoch längst tot, und die Sache ist erst aufgeflogen, als das Gerücht aufkam, der Alte sei ermordet worden. Aber das war ja alles nicht so spektakulär wie die Leiche unterm Kirschbaum beziehungsweise unter der Garage.«

Als sie vor der Villa standen, in der einst Wiederschein sein ›à la world-carte‹ betrieben hatte, fühlten sie sich an die DDR des Jahres 1990 erinnert: Alles war verfallen und in einem jämmerlichen Zustand.

Mannhardt kam ein Schlager in den Sinn, den sie vor 50 Jahren bei einem solchen Anblick alle gesungen hatten: Rosemary Clooney, ›This Ole House‹.

This ole house once knew his children / This ole house once knew his wife / This ole house was home and comfort / As they fought the storms of life / This old house once rang with laughter / This ole house heard many shouts / Now he trembles in the darkness / When the lightnin’ walks about … Weiter kam er nicht mehr.

Orlando klatschte Beifall. »Deutschland braucht den Superstar nicht länger zu suchen, hier ist er: mein Opa! Aber sag mal: Was ist denn das, was du da gesungen hast? Hast du in der Volkshochschule eine neue Fremdsprache gelernt?«

Mannhardt war ein wenig gekränkt, hatte er doch sein bestes Englisch bemüht. »Wenn du das nicht verstehst, musst du dir eben die deutsche Fassung anhören: Bruce Low: ›Das alte Haus von Rocky Docky‹.« Und auch da kannte er die erste Strophe. »Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt. Kein Wunder, dass es zittert, kein Wunder, dass es bebt. Das Haus von Rocky Docky sah Angst und Pein und …«

»Diese Bruchbude hier offenbar auch«, sagte Orlando. »Wenn der Schulz hier wirklich ermordet worden ist …«

»Komm, gehen wir mal rein.« Mannhardt war neugierig.

Orlando zögerte. »Wir behandeln das zwar erst im vierten Semester, aber juristisch gesehen ist das bestimmt nicht koscher.«

»Und wenn? Wo ein Loch im Zaun ist, da ist auch ein Weg.«

Ein vielleicht zehnjähriger Junge, der ein wenig Ähnlichkeit mit Harry Potter hatte, kam vorüber und konnte den schwarzen Neufundländer, den er an der Leine führte, kaum bändigen, so sehr bellte das Tier und gebärdete sich wie närrisch.

»Gehen Sie nicht rein in das Haus!«, rief ihnen der Junge zu. »Da drin spukt es, und der Hund, der wittert das.«

»Wir glauben nicht an Spuk und böse Geister, Hertha BSC wird Deutscher Meister«, sagte Mannhardt.

Orlando lachte. »Aber erst, wenn ich Opa bin – oder noch ein paar Jahre später.«

»Wirklich!«, beharrte der Junge. »Mein Freund sagt, dass da noch ’ne Leiche drin liegt.«

»Wie heißt du denn?«, fragte Mannhardt, man konnte ja nie wissen.

»Jasper.«

»Sehr schön. Und was weißt du noch so über dieses Haus?«

Der Junge bekam es nun mit der Angst zu tun. »Nichts weiter. Und ich muss jetzt nach Hause.« Damit ließ er sich von seinem Hund zum nächsten Baum ziehen.

»Das fängt ja gut an«, sagte Orlando. »So viel suspense hatte ich gar nicht erwartet.«

»Lass dieses blöde Wort!«, rief Mannhardt. »Seinetwegen habe ich mal in einer Englischarbeit eine Fünf bekommen, weil ich nämlich suspense mit Suspensorium übersetzt habe.«

Sein Enkel wollte es nicht glauben. »Deswegen schon?«

»Nein, vor allem, weil der Lehrer Fritz hieß und wir immer gesungen haben: ›Für unseren Fritz hat das Suspensorium noch lange nicht den richtigen Sitz.‹ Er hatte nämlich – wie sagt man – ein gewaltiges Gekröse, aber immer viel zu knapp geschnittene Hosen an. Nicht der Mädchen in der Klasse wegen, sondern der Jungen … Und das zu Zeiten des Paragrafen 175.«

Mannhardt weitete das Loch im Zaun, indem er ein paar Latten zur Seite drückte.

Sie kamen ohne Mühe in den Vorgarten. Der Rasen war offenbar seit Jahren nicht mehr gemäht worden, die Hecken hatte niemand beschnitten, und erst recht nicht die Algen mit einem Hochdruckreiniger vom Mauerwerk entfernt. Im Souterrain und im Parterre waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, im ersten Stock erblickten sie eine Reihe zerdepperter Scheiben. An einigen Stellen war der Putz in großen Brocken von der Wand gefallen. In der Dachrinne wuchsen kleine Birken. Der Transparentkasten mit dem Namen des Restaurants war weithin zertrümmert worden, sodass nur noch ›a la … car…‹ zu lesen war, als würde es sich hier einmal um ein Autohaus gehandelt haben.

»Vom Schmuckstück zum Schandfleck«, stellte Mannhardt fest.

»Der Clou wäre natürlich, wenn wir hier eine Leiche finden würden«, sagte Orlando. »Eine, die uns dann den wahren Mörder finden lässt.«

»Das ist hier nicht der Tatort Tegel.« Mannhardt meinte damit die alljährlich stattfindende Reinickendorfer Kriminacht in der Humboldt-Bibliothek am Hafen.

Orlando lachte. »Die ganze Welt ist ein einziger Tatort.«

Mannhardt hatte durchaus die Absicht, in die verlassene Villa einzudringen und sich in den Räumlichkeiten umzusehen. Vor allem war er neugierig, ob es einen Kellerraum gab, der dem von Abel Hradschek in Tschechin irgendwie ähnelte. Noch mehr aber reizte ihn im Augenblick das Gästehaus, in dem Siegfried Schulz aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden war. Jedenfalls nach Meinung des Gerichts wie des Kollegen Schneeganß.

Doch dieses Gästehaus des ›à la world-carte‹ gab es nicht mehr, der ehemalige Pferdestall war abgerissen worden.

»Warum denn das?«, fragte Mannhardt an seinen Enkel gewandt.

Orlando hatte eine logische Erklärung dafür. »Meinst du denn, da hat noch einer drin übernachten wollen, nachdem überall zu lesen stand, wo man Schulz ermordet hat?«

Mannhardt war ein wenig enttäuscht. »Klar, es ist Unsinn, aber ich hatte irgendwie gehofft, auch nach so langer Zeit noch was zu finden, was uns weiterbringen würde.«

Sie suchten an der Rückfront des Hauptgebäudes nach einer Möglichkeit, in das Innere des Hauses zu gelangen, ohne etwas aufbrechen zu müssen oder sich die Kleider zu zerreißen. Die Tür des Anbaus schien sich am ehesten ohne spezielles Werkzeug öffnen zu lassen. Mannhardt begann, das Schloss genauer zu untersuchen.

Eine keifende Stimme ließ ihn zusammenzucken. »Hallo, was machen Sie denn da?«

Mannhardt fuhr herum und sah am Zaun zum Nachbargrundstück eine alte verbitterte Dame stehen, die er aus Klütz’ Memoiren zu kennen glaubte. »Ah, Sie sind die Frau Laubach …?«

»Sind Sie ein ehemaliger Schüler von mir?«

»Ja«, log Mannhardt. »Der Hansjürgen aus der 5a.«

»Und was haben Sie hier zu suchen?«

Einen Augenblick schwankte er, dann schien es ihm doch am klügsten zu sein, der Laubach die Wahrheit zu sagen. »Wir sind im Auftrag von Herrn Klütz nach Frohnau gekommen. Es geht um die Wiederaufnahme seines Verfahrens.«

»Wieso denn das?«, wollte Carola Laubach wissen.

»Weil er inzwischen bestreitet, die Tat damals wirklich begangen zu haben.«

»Das fällt ihm jetzt erst ein, dass er es nicht gewesen ist …?« Die Laubach tippte sich an die Stirn. »Der ist wohl meschugge.«

»Das passiert bei einem Confessor gelegentlich, dass er später umfällt«, erklärte Mannhardt.

»Wie denn das?«, fragte die Laubach.

»Das kommt schon mal vor, dass einer bereitwillig mit der Kripo zusammenarbeitet und Verbrechen zugibt, die er gar nicht begangen hat, aus welchen Gründen auch immer: aus Geltungssucht, weil er sich selbst bestrafen will, weil er gelobt werden will, weil er seine Ruhe haben will, weil es ein versteckter Selbstmord ist. Da kommt immer viel zusammen. Und bei Klütz scheint die jahrelange Therapie dazu geführt zu haben, dass er die Tat bestreitet und sich dem Leben wieder stellen will,« erklärte Mannhardt.

»Wem soll man denn heute noch glauben?«, fragte die Laubach. »In dieser Welt ist doch alles durcheinander! Erst hätten wir schwören können, dass es der Wiederschein gewesen ist, dann haben sie die Leiche von Schulz drüben unter der Garage gefunden, und der Klütz hat alles gestanden … Und nun? Soll alles wieder von vorn losgehen?«

Mannhardt zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das hängt davon ab, was wir herausfinden.«

»Sie sind Kriminalbeamter?«, wollte die Laubach wissen.

»Ja.«

»Lügen Sie nicht so frech! Nicht in Ihrem Alter.«

Mannhardt duckte sich unwillkürlich. Lehrerinnen wie die Laubach hatten in solchen Fällen früher immer mit dem Stück Kreide geworfen, das sie gerade in der Hand hatten.

»In Ihrem Alter ist man längst pensioniert«, fuhr die Laubach fort.

»Pardon!« Mannhardt deutete eine leichte Verbeugung an. »Ich war früher wirklich Leiter der 12. Mordkommission, bin aber immer noch sozusagen im Dienst, weil ich an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, wo unsere Kriminalkommissare ausgebildet werden, weiterhin einen Lehrauftrag im Fach Kriminologie habe. Und das hier ist einer meiner Studenten …« Er zeigte auf Orlando.

»Ja«, kam es ergänzend von seinem Enkel. »Wir haben gerade mit einem Projekt über ungelöste Fälle begonnen …«

»Im Fachjargon ›nasse Fische‹«, ergänzte Mannhardt. »Und irgendwie ist der Fall Schulz so ein nasser Fisch.«

Carola Laubach zeigte sich mit diesen Antworten zufrieden und verzichtete darauf, die Polizei zu rufen.

So wagte es Mannhardt, weitere Fragen zu stellen. »Wem gehört inzwischen dieses Grundstück …?«

»Das entzieht sich leider meiner Kenntnis. Die Eigentümer wechseln häufig. Zuletzt war der andere Nachbar im Gespräch, der Herr Professor Schönblick.«

Mannhardt staunte. »Der hat doch das Baugrundstück damals mitsamt dem Rohbau an Karsten Klütz verkauft …?«

»Ja, aber dann, als Herr Klütz verurteilt worden war, von ihm zurückerworben. Zu einem viel geringeren Preis, wie man mir erzählt hat, da es lange Zeit als schwer verkäuflich galt.«

»Wegen der vergrabenen Leiche, klar.« Mannhardt nickte. »Und was ist eigentlich aus Wiederschein und seiner Frau geworden?«

»Auch davon habe ich keine genaue Kenntnis, ich weiß nur, dass die beiden damals nach Bremen gegangen sind.«